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Jelinek und Hesiod

Hesiod erzählt die Entstehungsgeschichte der Erde und der Götter in seiner „Theogonie“ als ein von Gewalt und Rache durchzogenes Narrativ. Lesen Sie in dieser Gegenüberstellung, wie Elfriede Jelinek in „Asche“ die komplizierten Familienverhältnisse aufgreift.

Hesiod: „Theogonie“

II. Die Entstehung der Welt und der ersten Götter

Zuallererst war da nur Chaos der aufklaffende Abgrund:
aus ihm erwuchs Gaia die breitbrüstige Erde als ewig fester Grund
für alle Unsterblichen, die am Gipfel des verschneiten Olymp leben
Der neblige Tartaros in der fernen Tiefe unter der weitläufigen Erde
und Eros dieser allerschönste der Unsterblichen,
der den kleinen Tod der Liebe bringt - und Göttern
wie Menschen die Hellsicht des Verstandes nimmt.

Aus dem Abgrund stieg Erebos das Finster und Nyx die dunkle Nacht.
Und nachdem sie sich aus Erebos’ Armen gelöst hatte
brachte die Nacht Äther die Luft und Hemére die Taghelle zur Welt.
Gaia jedoch gebar erst einen, der ihr gleichkam:
Uranos den sternvollen Himmel, auf dass er sie überall umfasse
und sie zum festen Grund für die gesegneten Götter mache.

Dann brachte sie die hohen Berge hervor in deren Täler und Schluchten
die göttlichen Nymphen sich gerne aufhalten
und darauf ergoss sich Pontos aus ihr das unermessliche Meer –
nicht in begierlicher Liebe, sondern in gierig brandenden Wogen
um sich danach Uranos hinzugeben und den sie umschließenden
tief strömenden Okéanos zu gebären seine Frau Tethys und die Titanen:
Kreios, Hyperíon den Vater der Sonne, Lápetos, Theia und Rheia,
Themis die Gesetzgebende - Mnemosyne die Erinnerung, Letos Eltern
Koios und die bekränzte Phoibe und als jüngsten und schrecklichsten
den verschlagenen Kronos der seinen kraftstrotzenden Vater hasste.
Sie gebar auch die anmaßenden Kyklopen: Brontos der Zeus’ Donner rollte
den weißglühenden Stéropes und den einschlagenden Arges,
die Zeus’ blitze schmiedeten. Was immer sie auch anpackten
sie bewiesen Stärke und Willen und Geschicklichkeit, in allem
waren sie den Göttern gleich - bis auf das eine Kreisaug,
das rund in der Mitte ihrer Stirne saß: daher ihr Name.

Von Gaia und Uranos stammen jedoch noch andere ab
drei riesige und rohe Söhne deren Namen man besser nicht nennt:
Kottos, Briáreos und Gyges in all ihrer Übermächtigkeit.
Sie schwangen hundert Arme die aus ihren Schultern wuchsen:
man malt sie sich lieber nicht aus - die ungeschlachten Rümpfe
auf denen fünfzig dicknackige Köpfe sitzen
monströse Kreaturen voll maßloser Gewalt.

Alle die Gaia und Uranos entsprangen
waren bereits als Kinder zum Fürchten - ihr Vater hasste sie alle
von Anfang an. Jedesmal wenn eins von ihnen auf die Welt kam
steckte er sie wieder in die Leibeshöhle der Erde
dass sie das Licht nicht erblickten - und er freute sich noch darüber
der Uranos. Gaia die breite Erde aber stöhnte auf,
weil es ihr drückend eng wurde und ersann einen Plan ihn zu untergraben.
Dazu schuf sie das graue Erz meteorischen Eisens
bog daraus eine große Sichel zeigte sie ihren lieben Kindern
und machte ihnen - am Boden wie sie war - Mut:

Meine Kinder! Euer Vater ist ein verabscheuenswerter Kerl.
Wenn ihr auf mich hört könnt ihr seine Schandtaten rächen.
Ihr habt ihm nichts getan - er ist von sich aus so böswillig.

Keiner antwortete - alle hatten sie Angst vor ihm
bis auf den großen doch verschlagenen Kronos –
der traute sich und erwiderte seiner lieben Mutter:
Ich werde es in die Hand nehmen und auch zu Ende bringen.
Weshalb einen Vater schonen, der den Namen nicht wert ist?
Ich habe ihm nichts getan - er ist von sich aus so böswillig.
Und die breite Erde freute sich im innersten darüber.

Sie versteckte ihn in einem Hinterhalt drückte ihm
eine scharfgezahnte Sichel in die Hand und weihte ihn ein in ihren Plan.
Da erschien er schon der große Himmel und brachte die Nacht herab:
voller Lust drückte Uranos Gaia an sich und presste sie überall nieder.
Da langte sein jüngster Sohn mit der linken aus dem Versteck griff ihn
und mähte dem hechelnden Vater - die große Sichel mit ihrer Reihe
von scharfen Zähnen in der rechten - am Bauch Glied und Hoden ab
und warf sie hinter sich. Sie flogen ihm nicht folgenlos aus der Hand:
denn das Blut das daraus hervorspritzte tropfte
auf die breite Erde und rann in sie so dass - der Kreis des Jahres vollendet –
die Erinyen, diese mächtigen Rachegöttinnen hervorkamen, die Giganten
groß in glänzenden Rüstungen lange Speere in der Hand
und die Melien, wie man die Nymphen der Eschen nennt.

Glied und Hoden aber, die Kronos mit der meteorischen Sichel abgeschnitten
und über das Land in die wogende See geworfen hatte
wurden weit ins Meer hinausgeschwemmt schäumend
um das unsterbliche Fleisch - helle Gischt die einem Mädchen
Gestalt verlieh. An der heiligen Insel Kýthera vorbei
trieben die Wellen sie bis zum umbrandeten Kypros.
Dort schritt eine majestätisch schöne Göttin an Land
weiches Gras überall um ihre schlanken Füße aufsprießend: Aphrodite
wird sie von Menschen und Göttern genannt, weil Meerschaum - Aphros –
sie gebar, Kythéreia weil sie dort vorbeitrieb
Kypris, weil sie da aus den Wellen in die Welt kam und auch die
mit Schamlippen lieb Lächelnde, weil sie aus einem Glied erstand.
Eros und der hübsche Hímeros waren dabei zugegen
und geleiteten sie auf ihrem Weg hinauf zum Geschlecht der Götter.
Und das ist die Macht, die ihr von Anfang an zugeteilt wurde
damit nimmt sie Anteil an den Menschen und unsterblichen Göttern:
im Geflüster der Mädchen dem Lächeln allem Lug und Trug
der süßen Lust, der Umarmung und dem Küssen.

Was die anderen Kinder des großen Himmels jedoch betrifft
so schimpfte ihr Vater sie Titanen:
er sagte nämlich sie hätten Unrecht getan sich Titel der Ahnen anzumaßen
und die Hände nach Hohem auszustrecken - er werde sich noch dafür rächen.

Elfriede Jelinek: „Asche“

Aber Sie, hören Sie!, Sie zählen da Hunderte Geschöpfe auf, die, der Name sagt es ja, geschaffen wurden. Sie sagen, wer wen gezeugt und wer gegen wen gezeugt hat, denken Sie nur an der Kyklopen trotziges Herz!, das wollen Sie nicht haben, es würde seinem eigenen Schlagen widersprechen, aber der Krummes sinnende Kronos, das schreckliche Kind, das Kind, nicht der Wind, der Kronos, der kam heraus, das entsetzliche Kind der Erde, und klar, der haßt seinen Vater schon, bevor er überhaupt aus der Muttererde heraustritt. Die Mutter haßt den Vater ja auch, weil der sie ständig an der Entfaltung gehindert hat. Der Vater hätte dem Kind seine erste Uhr schenken sollen, hat er aber nicht. Das Kind war ihm böse deshalb. Der Kronos will also auf den Chronometer schauen und merkt plötzlich, daß er ohne innere Uhr geschaffen wurde und zur Firmung zwar eine gekriegt hat, die liegt jetzt aber am Grund eines ausgetrockneten, bittersalzigen Steppensees. Schatzsucher hoben diese Uhr mittels eines Detektors für Metalle, und jetzt schaut Kronos schon wieder durch die Finger. Was er aber hat, sind liebliche Schwestern, doch von denen reden wir jetzt nicht, wir reden aus Neid niemals von schöneren Frauen. Was wir mit alldem sagen wollen, ist: Nicht wir, die Erda selbst, die Gaia ist schuld. Die Erde, nicht wir, hols der Geier, ist an allem schuld.