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In Isolation – Stanislaw Assejew

Ein fast vergessener Krieg im Osten der Ukraine: Stanislaw Assejew ist Journalist und Augenzeuge, der zwischen 2015 und 2017 in seinen Texten für Radio Liberty festhält, was vor sich geht im Donbass, in diesem Teil Europas, in dieser Gegend, die Russland und seine Freunde vor Ort gern als das „märchenhafte Neurussland“ bezeichnen. Den Autor treibt bereits lange vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Frage um: „Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?“, er beschreibt und reflektiert das Leben der Menschen im Krieg, ihr Verhalten, ihre Einstellungen. Diese Texte haben ihn im Donbass ins Gefängnis gebracht. Lesen Sie hier zwei Auszüge aus dem eindrucksvollen Buch, das jetzt mit Unterstützung des PEN Zentrums der Ukraine zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen konnte.

Homo Donbassus oder was der Krieg verändert hat

Im Moment ist wohl der Donbass das Bollwerk, das die Schläge abfängt, damit das Virus der „Russischen Welt“ sich nicht bis nach Schytomyr ausbreitet, ein Bollwerk hält aber nicht ewig - militärisch ist das Problem nicht zu lösen. Die Rhetorik von „Sklaverei“ und „Pöbel“, die diejenigen pflegen, die noch nie einen Hammer in der Hand gehalten haben, und das hartnäckige Fabulieren von „Nazis“ ist wie ein Ball, der seit zwei Jahren hin und her gespielt wird. Ein nüchterner Blick sagt, dass Donezk für die Ukraine verloren ist. Mental, körperlich, mit allen Folgen, die einem noch gar nicht bewusst sind. Ein Ritt des nationalen Gedankens in die europäische Zukunft über die Besatzung der Krim, den Verlust des Donbass, den Bernstein in Wolhynien und die Offshores erinnern eher an einen tödlich verwundeten Soldaten, der sich mit letzter Kraft nach einem Glas teuren Weins ausstreckt. In diesem Chaos haben wir einen genetischen Zweig des Homo Donbassus noch nicht erwähnt - die Menschen, die noch hier sind. Es gibt sie noch, die Ukrainer von Donezk. Es werden jeden Tag weniger: Der eine ist emigriert und damit praktisch in ein anderes Land gezogen, der andere glaubt an die „Republik“, und diese Fälle sind nicht so selten. Viele glauben immer noch und kämpfen. Doch die meisten warten. Warten darauf, dass man sich eines Tages an sie erinnert und sie nicht auffordert, ihre Heimatstädte zu verlassen wie Ratten das sinkende Schiff.

Dzerkalo tyzhnja, 8. April 2016

Ein Talent zu verlieren

Was die ukrainische Gesellschaft in den letzten drei Jahren durchgemacht hat, erstreckt sich in anderen Ländern über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte.

Revolution Ende 2013, Annexion und Verlust der Krim, Krieg im Donbass - all das hat sich binnen weniger Monate ereignet und die darauffolgenden drei Jahre bis zur Unendlichkeit gedehnt. Aber den Anfang können wir genau bestimmen: Die Geometrie der Verluste ist erschütternd. Aus Gründen der „politischen Zweckmäßigkeit“ haben wir die Krim kampflos preisgegeben. „Keine Panik entstehen lassen“ und „die Lage unter Kontrolle halten“ – das waren unsere Formulierungen für die Preisgabe der Gebietsverwaltungen in Donezk und Luhansk. Wir sind fest davon überzeugt, dass die ukrainische Armee nicht imstande war, Girkin mit seinen paar Getreuen zu überwältigen, und indem wir ihnen Zugang zu Donezk gewährt haben, nachdem sie erstarkt waren, haben wir die Geiseln gerettet, mit denen man den Rückzug rechtfertigte. Binnen eines halben Jahres - von Frühjahr bis Herbst 2014 - hatte die Ukraine die Krim und den industriellen Teil des Donbass verloren und fand dafür scheinbar rationale Erklärungen. Die Formel ist ziemlich simpel: Russland ist schuld. Zu den Schuldigen gehören auch die, die sich selbst zu Geiseln gemacht haben, weil sie in einer fiktiven, schnell geschaffenen Welt zwischen Straßensperren gestrandet sind. Der Staat hat das seltene Talent bewiesen, sein Eigentum zu verschleudern. Seit nunmehr drei Jahren sind mehrere Millionen Menschen in der Besatzungszone von Informationen abgeschnitten. Ein bedeutendes, vielleicht das bedeutendste Ereignis der jüngeren ukrainischen Geschichte wird mit Stacheldraht, Minen und Stille abgeschirmt.

Dzerkalo Tyzhnja, 26. Mai 2017

Staniaslaw Assejew: In Isolation. Texte aus dem Donbass. Edition FotoTapeta, Berlin 2020