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Jelinek und Platon

„Weisen wir der Erde eine bestimmte Gestalt zu? […] Sagen wir, sie ist ein Würfel“. Als Inspiration für diese unkonventionelle Auffassung dient Elfriede Jelinek Platons „Timaios“. Das Werk des antiken Philosophen ist eine der ersten naturwissenschaftlichen Abhandlungen der Geschichte und beschreibt die Entstehung und Ordnung des Kosmos. Wie Jelinek in „Asche“ auf Platons Werk und dessen Elementenlehre zurückgreift, können Sie hier in einer Gegenüberstellung der beiden Texte nachlesen.

Platon: „Timaios“

Als aber begonnen wurde, das All zu ordnen, und zunächst Feuer und Wasser und Erde und Luft zwar gewisse Spuren ihrer selbst hatten, insgesamt allerdings noch in einer Verfassung waren, wie bei allem zu erwarten ist, wenn Gott davon fern ist, da hat er dann das, was damals von Natur aus so beschaffen war, zuerst mit Formen und Zahlen in eine Gestalt gebracht. (…)

Aus denselben Dreiecken, die als acht gleichseitige Dreiecke sich zusammenfügen, (entsteht) eine zweite, wobei sie einen räumlichen Winkel aus vier flächigen bilden, und indem sechs solche entstehen, findet der zweite Körper seinerseits so seine Vollendung (der Oktaeder). Die dritte (Gestalt) aber ist aus zweimal sechzig zusammengeschlossenen Grundformen entstanden, aus zwölf räumlichen Winkeln, von denen jeder von fünf flächigen gleichseitigen Dreiecken umschlossen wird, indem er zwanzig gleichseitige Dreiecke als Grundflächen hat (der Ikosaeder). Und die eine der Grundformen, die diese hervorbrachte, war damit erschöpft. Das gleichschenklige Dreieck aber brachte die Natur der vierten hervor, indem es zu viert zusammentrat und seine rechten Winkel ins Zentrum zusammenführte und ein einziges gleichseitiges Viereck schuf. Indem sich sechs derartige zusammenschlossen, bildeten sie acht räumliche Winkel, wobei ein jeder zusammengefügt wird aus drei rechteckigen Flächen; die Gestalt des zusammengefügten Körpers aber ist würfelförmig geworden und er hat sechs flächige Quadrate als Grundflächen. Da es noch eine fünfte Zusammenfügung gibt (den Dodekaeder aus regelmäßigen Fünfecken), benutzte Gott sie für das All, indem er es mit Bildern (zwölf Sternbildern, einem je Pentagon) versah. (…)

Und den müssen wir nun beiseite lassen, die in unserer Darstellung entstandenen Gattungen aber wollen wir Feuer, Erde, Wasser und Luft zuordnen. Der Erde also wollen wir die Würfelgestalt geben; denn am unbeweglichsten von den vier Gattungen ist die Erde und von den Körpern am besten zu formen; von der Art ist aber notwendigerweise am ehesten dasjenige, das die sichersten Grundflächen besitzt. Soweit die Grundfläche aber aus den ursprünglich zugrunde gelegten Dreiecken besteht, ist die der gleichschenkligen von Natur aus sicherer als die der ungleichseitigen, und in Bezug auf die Fläche, die aus jedem der beiden zusammengesetzt ist, ist das Quadrat notwendigerweise sowohl in den Teilen als auch insgesamt standfester begründet als das gleichseitige Dreieck. Deshalb weisen wir dies der Erde zu und bleiben damit bei der wahrheitsgemäßen Darstellung, dem Wasser aber wiederum die Gestalt, die von den übrigen am schwersten beweglich ist, die am leichtesten bewegliche aber dem Feuer und die dazwischen der Luft; und den kleinsten Körper dem Feuer, den größten wiederum dem Wasser, den mittleren aber der Luft; und den spitzesten wiederum dem Feuer, den zweiten der Luft und den dritten dem Wasser. Dies sind nun also alle, es muss aber der mit den wenigsten Grundflächen von Natur aus von allen am leichtesten beweglich sein, am besten zerteilbar und am spitzesten in jeder Hinsicht, ferne der leichteste, da er aus den wenigsten identischen Teilen besteht. Der zweite aber hat genau dies an zweiter Stelle, an dritter Stelle aber der dritte.

Elfriede Jelinek: „Asche“

Also, ganz unter uns: Es ist doch so, daß Himmel, Erde, Wasser, Luft und Feuer erschaffen wurden, und die haben dann wiederum die Götter hervorgebracht. Oder war es umgekehrt?

Also deshalb Würfel, weil die Erde unter all diesen Welten die gewinnsüchtigste, unter all diesen Gattungen aber die unbeweglichste und unter den Körpern, ohne den Vorzug eines Gesichts zu haben, der bildsamste ist.

Wir bleiben jedoch erst mal bei unsrer Einteilung, also: Die beweglichste Gattung ist das Feuer, die dazwischenliegende die Luft, bis sie einmal aufsteht und uns von innen her auffrißt, unser Fehler, daß wir sie überhaupt reingelassen haben, und wärs nur fürs Atmen. […] Die Luft ist am Boden, wo sich jetzt rapide das Feuer ausbreitet. Auf Ihrer Höhe finden Sie kein Stück Luft mehr, das Feuer hat sie für sich verbraucht, und davor haben schon Sie sie beinahe verbraucht. Das Feuer kann jetzt nur noch ausgeatmete Luft verwerten. Ihm ist das egal, es nimmt alles. Die Elemente sind nun wirklich selber schuld an allem, was ihnen passiert ist. Und wir zweifelhaften Elemente wissen nicht, wie uns geschieht. Weiß es der Vogel, der singt auf grüner Heide? Wenn er noch singt, kann er es unmöglich wissen. Und wer schreibt, kann unmöglich gleichzeitig denken.