MK:

Auszug aus dem Roman

Ich wache auf, ich habe Durst. Nicht nur ein bisschen, sondern Durst à la: Noch zehn Minuten, und ich bin tot. Es ist mitten in der Nacht. In meinem Zimmer haben meine Eltern den Homie, unseren Haus-Computer, ausgeschaltet, damit ich nicht an ihm herumspiele. Also muss ich hinüber zum Lichtschalter, und das, obwohl ich wirklich riesige Angst vor der Dunkelheit habe. Und wenn ich riesig sage, meine ich schrecklich. Ich nehme also all meinen Mut zusammen, steige aus dem Bett und stolpere los. Bei jedem Schritt kleben meine nackten Füße kurz am Parkettboden fest. Dazu taucht in meinem Kopf ein absolut unheimliches Bild auf: wie sich die Haut der Sohlen in die Länge zieht. Endlich ertaste ich an der Wand den Schalter. Für einen Moment hatte ich befürchtet, ich befände mich gar nicht in meinem Zimmer, sondern in einer gewaltigen, leeren Halle ohne Ausgang auf einem fremden Planeten. Aber da ist der Schalter, ich wische darüber, und es ist mein Zimmer, auf dem Boden liegt mein Spielzeug, da steht mein Kleiderschrank, da mein Tisch mit dem Mal-Screen. Trotzdem sieht im elektrischen Licht alles anders aus als tagsüber. Als wäre hier gerade eben erst etwas geschehen, das nichts für Kinder ist. Im hellen Kegel, der aus meiner Tür in den Flur fällt, husche ich los, am Zimmer meiner Eltern und dem meines kleinen Bruders vorbei, vorbei am Erbstück, am Wandteppich, der eine golden schimmernde Stadt mit Zinnen und Türmen zeigt. Endlich in der Küche, rufe ich außer Atem: „Licht!“ Sofort führt der Homie meinen Befehl aus. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um den Kühlschrank zu öffnen, strecke mich nach der Milchpackung, jetzt habe ich sie, sie ist schwerer als gedacht, aber heute rutscht sie mir nicht aus der Hand so wie letztes Mal. Ich drücke die Lasche auf. Leise ploppend zerplatzt eine durchsichtige Blase in der dreieckigen Öffnung. Das Hologramm auf der Packung ist Schönheit deluxe: Eine Kuh und ein alter Mann mit Schlapphut, grauem Bart und einem knorrigen Stab in der Hand schmiegen die Köpfe aneinander. Vor lauter Seligkeit haben beide ihre Augen zu Schlitzen verengt. Darunter steht ein Wort, von dem ich, obwohl ich noch nicht lesen kann, weiß, was es bedeutet, weil es meiner Mutter so wichtig ist. ARTGERECHT. Nur mal fürs Protokoll: Ich habe niemanden aufgeweckt und bin ganz allein nachts in die Küche geschlichen. Wenn ich meinen Eltern morgen davon erzähle, werden sie staunen. Vielleicht werden sie stolz auf mich sein. Wie die Zeit vergeht. Genau so sagen sie das manchmal. Ich führe die Kanten des Kartons an den Mund und spüre, wie die Milch durch meinen Körper fließt, durch meine Kehle, meine Brust, jetzt durch mein Herz, weiß und kalt.

Nur in absoluten Ausnahmesituationen rufe ich mir solche Glücksmomente deluxe aus der Voruntergangszeit ins Gedächtnis.