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MK:

Keine Gedichte über Krieg

Sasha Marianna Salzmann schreibt in dem Text „Keine Gedichte über Krieg“ über die Unmöglichkeit und gleichzeitig der Notwenigkeit im Krieg zu schreiben. Ein starker Text aus dem letzten Jahr, den Salzmann anlässlich des Festivals „Mit Sprache handeln“ geschrieben hat.

1.

Es gibt keine Gedichte über Krieg. Es gibt nur Zersetzung, heißt es bei der Dichterin Lyuba Yakimchuk. Also zerlegt sie die Wörter: Lu-hansk; Do-nezk; und zum Schluss des Gedichts ihren eigenen Namen: Nicht mehr Lyuba steht dort, sondern nur noch „ba!“. Wobei die Formulierung „zerlegt sie“ falsch ist, denn die Wörter, die Orte, die Menschen sind bereits zerlegt, Yakimchuk schreibt nur auf, was stattfindet. „Sprache ist so schön wie die Welt, die sie umgibt. Wenn jemand deine Welt zerstört, wird es die Sprache reflektieren“, sagt die in der Donezk-Region geborene Autorin. Sie versteht sich als literarische Nachfahrin von ukrainischen Futuristen wie Mykhailo Semenko, der die Dekonstruktion in die ukrainische Lyrik brachte und, wie so viele andere Dichter*innen in den Jahren des Stalin-Terrors, erschossen wurde.

Es gibt keine Gedichte über Krieg. Nur Zersetzung. Ich habe in den letzten Monaten versucht zu schreiben. Nicht über den Krieg. Einfach nur zu schreiben. Zwischen Telefonaten auf der Suche nach Wohnungen für Menschen, die fliehen. Auf der Suche nach Medikamenten, aufblasbaren Matratzen, Kinderschuhen, Badesachen, den passenden SIM-Karten. Ich hing in der Warteschleife des Bürgeramts, weil über die Hotline für Ukrainische Flüchtlinge niemand erreichbar war und ich also immer und immer wieder weitergeleitet wurde. Eine verlangsamte Version von The Sunsilk Girl zersägte mir das Ohr, während ich auf das leere Blatt auf dem Desktop meines Laptops starrte und dachte, in der Zeit, in der ich warte, könnte ich doch ein paar Zeilen schreiben. Als sich schließlich, nach knapp zwei Stunden warten, fragen und weitergeleitet werden, ein Beamter verplapperte und sagte: „Hören Sie, ich kann Sie weiterverbinden, aber die Kollegen haben die Anweisung, es klingeln zu lassen“, legte ich auf. Ich starrte wieder auf das leere Blatt vor mir. Jetzt, genau jetzt, könnte ich doch etwas schreiben.

Mit Valeria war ich in den Wochen seit ihrer Flucht viel im Austausch – wir gingen zusammen zur ärztlichen Untersuchung ihres achtjährigen Kindes, wir saßen zusammen über Anmeldeformularen, aber auch in Parks, aßen Croissants aus Papiertüten und redeten über die schöne Stadt Kyiv, in die sie nicht allzu lang vor der Kriegserweiterung aus dem Osten des Landes gezogen war. Valeria sagte, die vielen Stunden auf den Ämtern bringen ihr durchaus etwas, sie lerne Deutsch. Ihren ersten Satz könne sie schon: „Bitte warten Sie.“

Es gibt keine Gedichte über Krieg. Ich habe versucht, ein paar Zeilen zu verfassen, in der Bahn, auf dem Weg zu Tatjana. In den ersten Wochen der Belagerung von Mariupol hatte sie den Kontakt zu ihrer Mutter verloren, dann, nach sechzehn Tagen Funkstille, kam das erste Lebenszeichen. Man habe die Mutter wiedergefunden: Sie war zu Fuß durch das Kriegsgebiet über die Grenze nach Russland geflohen. Aus Mariupol war sie nach Rostow am Don gegangen. Es seien zu Fuß 36 Stunden (180 km), sagt mir Google Maps. Wenn man ohne Pausen geht und wenn kein Krieg herrscht. Tatjanas Mutter ist dreiundsiebzig. Die Russen hätten sie am Aufnahmestützpunkt hilfsbereit empfangen, nur eine Frage sei ihr seltsam vorgekommen: „Haben Sie auf dem Weg irgendwelche Verbrechen gesehen?“ Dann gaben sie ihr Tee und setzten sie in einen Evakuierungsbus Richtung Moskau. Tatjanas Mutter hat es über Vilnius und Warschau nach Deutschland geschafft, nun sitzt sie bei Tatjana in der Wohnung und erzählt, die Ukrainer hätten sie und ihr Haus beschossen. Die Ukrainer hätten Bomben auf sie geworfen, Raketen auf sie abgefeuert, ihren Garten zerstört. Es waren nicht die Russen, es waren die Ukrainer, sie weiß es, so war es im Radio durchgesagt worden.

Die Oberfläche des Wassers in Tatjanas Glas zitterte. „Aber weißt du“, schob sie nach, „ich kann mir ja noch auf die Zunge beißen, aber wie soll Rita ruhig bleiben?“ Rita ist Tatjanas ältere Schwester. Sie war eine Woche vor ihrer Mutter aus Saporischschja geflohen, sie musste ihren Sohn und ihren Mann zurücklassen, die sich der Stadtverteidigung angeschlossen hatten.

So sitzen die beiden Schwestern Tag für Tag vor ihrer dreiundsiebzigjährigen Mutter, die zu Fuß über halb zerstörte Brücken und verminte Felder gegangen war und jetzt ihren Töchtern erklärt, die Russen wollten Frieden.

Es gibt keine Gedichte. Valeria ruft an und sagt, sie geht zurück. Sie packt ihren achtjährigen Sohn ein und geht nach Lwiw. Dort seien ihr Mann und ihre Mutter und ihre Großmutter. Es sei alles egal, die Grenzen, die Raketen, der Alarm. Sie könne hier in Berlin nicht atmen, es sei besser, bei der Familie zu sein. „Dann warte wenigstens den 9. Mai ab, in Ordnung?“, bitte ich sie. „Warte den Tag des Sieges ab. Wer weiß, was er dieses Jahr bedeuten wird.“

Dann denke ich an das beamtendeutsche „Bitte warten Sie“ und schlucke.

In der Tageschau heißt es: „Allein über die polnische Grenze würden jeden Tag rund 20.000 Menschen in die Ukraine zurückgehen, darunter auch Geflüchtete, die zuvor in Deutschland Schutz gesucht hatten.“

Es gibt keine. „Hat sie sonst etwas erzählt?“, traute ich mich nach einer Weile Tatjana zu fragen. „Deine Mutter muss doch irgendetwas anderes gesagt haben, außer dass die Ukrainer sie beschossen und die Russen ihr Tee gegeben haben.“ Ich hoffte, dass die Mutter vielleicht ein paar alte Geschichten ausgepackt hatte, um die Flucht vergessen zu können. Vielleicht, dachte ich mir, hat sie ja auch etwas Schönes erzählt, zum Beispiel, wie glücklich sie sei, ihre Töchter wiederzusehen. „Sie hat erzählt, wie viele Irre sie gesehen hat auf dem Weg durch das zerstörte Mariupol“, sagte Tatjana, und: Sie habe mehr Verrückte als Leichen gesehen, Verrückte, die durch die Straßen pendelten. „Wie kaputte Kompassnadeln.“

Es gibt. Die Freundin einer Freundin ist mit fünf Katzen aus Odessa geflohen. Meine Freundin fragte sie: „Aber Moment mal, du hattest doch auch einen Koffer dabei. Wie also hast du denn dazu noch fünf Katzen transportieren können?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ihre Freundin. „Ich kann es dir nicht beantworten. Ich erinnere mich an nichts. Ich weiß nur, ich nahm eine große Schere, bohrte Löcher in meine Reisetasche, und ab da erinnere ich mich an nichts.“

Nur Zersetzung. Der zweiundzwanzigjährige Bruder einer Freundin aus dem Gebiet Luhansk wurde eingezogen. Er sollte einen Posten bewachen. Die Gegend wurde eingekesselt. Er hat einen kaputten Rücken, seit seiner Kindheit schon. Eigentlich war er ausgemustert.

Es. Die Schmierereien, die die Schlächter von Butcha auf den Fassaden der Häuser hinterlassen haben: „Wer hat euch ein schönes Leben erlaubt?“ und: „From Russia with love“.

Butcha. Irpin. Mariupol. Trostjanez. Popasna.

Butcha. Borodjanka. Andrivka. Worsel.

Butcha. Tschernihiw. Wojewodiwka.

Butcha. Dass der Ort doch tatsächlich so heißt.

Butcher.

Keine Gedichte. Ich bin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, die die Rolle der Kunst in Zeiten des Krieges eruieren soll. Der Regisseur aus dem Donbass, mit dem ich zusammen auf die Bühne gehe, fragt mich auf dem Flur: „Wer ist denn für die russische Seite hier?“ Ich antworte, dass ich es nicht weiß. Er fragt, wo ich geboren sei. Ich schaue ihn an. „In Wolgograd. Aufgewachsen in Moskau.“ „Na also“, sagt der Regisseur und geht weiter. Ich spanne jeden einzelnen Muskel in meinem Körper an, um ihm nicht hinterherzuschreien: „Aber ich bin doch … Nein, es ist nicht so, wie Sie denken!“

Wir setzen uns auf unsere Stühle. Die Moderatorin fragt: „Können Sie gerade schreiben?“

Zersetzung. Lyu-ba! Sa-sha. Dan-ja, Em-ma-ma-ma. Dieses Jahr feierte mein Großvater Daniil, genannt Danja, seinen 85. Geburtstag. Eine Pianistin, die ihr Repertoire voll aus der Sowjetnostalgie schöpfte, spielte für ihn: „Я вам не скажу за всю Одессу / Вся Одесса очень велика / Но и Молдаванка и Пересыпь“: Ich kann nicht für ganz Odessa sprechen / ganz Odessa ist so riesig/ Aber in Moldawanka und Peresypj …

Das Lied handelt von den zwei Gaunerbezirken in Odessa, aus denen meine Urgroßeltern stammen. Mein Urgroßvater Sasha, dessen Namen ich trage, und meine Urgroßmutter Etinka, die dieses Jahr 105 geworden wäre. Das sind die Eltern von Emma, der Frau des Jubilars, die vor 60 Jahren Danja in Czernowitz heiratete. Zum Standesamt zog die halbe Stadt durch die Straßen und musizierte und feuerte meine Großeltern an, so zumindest die Familienlegende. „Danja, erzähl mir von Czernowitz!“, bat ich ihn bei der Feier. „Was war das Beste an Czernowitz?“ Danja lächelte, wie er immer lächelt, wenn er an Emma denkt (wie Al Pacino), und sagte: „Deine Großmutter.“ Emmas Gesicht leuchtete auf, als hätte ein Schmetterling seine Flügel aufgeschlagen. Aber dieses Mal tischte niemand Familienlegenden auf. Danja fing an, sich die Augen zu reiben, murmelte, dass sie, Emma und er, wie zahllose Emigranten auf der ganzen Welt, stets Geld nach Czernowitz geschickt hätten, damit die Gräber der Vorfahren sauber gehalten wurden, aber jetzt –“

Ich versprach, nächstes Jahr mit meiner Frau hinzufahren, den Grabstein seiner Eltern zu suchen und ihn sauber zu waschen. „Die Inschriften sind auf Hebräisch“, fügte Danja hinzu. „Aber ihr werdet ihn schon finden.“ „Nächstes Jahr in Czernowitz“, sagte ich, wie es die Juden gerne tun, wenn sie bei ihren Feiern mit „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ anstoßen, wissend, dass das Jerusalem, auf das sie ihr Glas heben, längst nicht mehr da ist. Und so nie mehr entstehen wird.

Setz-ung. Eine Freundin, die aus Moskau geflohen ist, zeigt mir auf ihrem Telefon ein Video: Militärflugzeuge in der Formation eines „Z“ markieren immer wieder den Moskauer Himmel. Sie sagt: „Die Welt teilt sich in jene, die Pläne machen, und die, die das nicht mehr tun.“

Und spätestens da verstehe ich, was mir abhandengekommen ist: Zukunft denken zu können.

2.

Sie haben mich eingeladen, mit Ihnen zusammen über die Lesung der Zukunft nachzudenken, also ergreife ich die Gelegenheit und übe mit Ihnen, Zukunft zu imaginieren. Als müsste ich nach einem Unfall oder einem enormen Schock das Gehen und Sprechen wieder erlernen. Also das, was für viele ganz selbstverständlich ist.

Verständigen wir uns erst einmal darauf, was wir mit „Zukunft denken“ meinen: kein magisches Denken, kein Wunschkonzert und keine Wahrsagerinnenprognosen. Ich glaube, das ist wichtig, denn mit Mutmaßungen über das Danach lenken wir uns von dem Heute ab. Masha Gessen sagt: „… darüber zu spekulieren, was nach dem Putin-Regime kommen könnte, ist ein Akt der Selbstberuhigung, um nicht darüber nachzudenken, welche Fehler gemacht worden sind und was heute getan werden muss.“

Es ist nicht unrealistisch, davon auszugehen, dass die Erde in baldiger Zukunft flächendeckend dem gleicht, was momentan die Realität ist, sagen wir an den Grenzen von Ländern wie Polen, der Türkei oder Kamerun: Mit einem Bein ist man in Sicherheit, mit dem anderen steht man im Kriegsgebiet. Der Grund dafür werden nicht nur militärische Auseinandersetzungen sein, sondern auch Unruhen infolge von Naturkatastrophen, die wir mit unserer Klimapolitik mitverschulden. Zukunftsszenarien dieser Art werden in allen möglichen künstlerischen Sparten seit Jahrzehnten entworfen, und genauso lange werden die Künstler*innen dazu befragt, ob es nicht produktiver wäre, sich Utopien auszudenken als permanent diese verstörenden Bilder heraufzubeschwören.

Nun ist die Rolle der Kunst ja weder das eine, noch das andere: weder propagiert sie eine bessere Welt, die so nicht stattfindet (ich bin mit dem sozialistischen Realismus aufgewachsen und reagiere allergisch auf eine Kunst, die das Leben zeigt, wie es vermeintlich sein sollte), noch sind wir Künstler*innen zuständig für die Darstellung der Apokalypse, die das Publikum bis aufs Mark erschüttern, damit es sich in Zukunft endlich mehr Gedanken macht um den Fortbestand der Menschheit, den Zustand unseres Planeten etc. Und unter anderem deswegen glaube ich, dass Kunst immer fortbestehen wird, ganz gleich, was Besucher*innenstatistiken und Verkaufszahlen sagen. Mir ist bewusst, wie paradox das klingt: Es fällt mir schwer, Zukunft zu denken, aber ich habe keine Zweifel an der Zukunft der Kunst. Dort, wo Leben ist, wird es immer Kunst geben. Oder andersrum: Kunst ist das sichere Signal dafür, dass es noch Leben gibt.

Medien und Geschichtsbücher, diese anderen Protokolle der menschlichen Natur, funktionieren wie mobile Scheinwerfer: Einmal fällt ihr Licht auf die Ukraine, mal auf Afghanistan, dann wieder ist es Syrien oder Burkina Faso, Chile, Transnistrien, Südafrika. Aber Literatur, Kunst im Allgemeinen, ist der Blutstrom, der unabhängig von diesen Scheinwerfern stetig fließt und zirkuliert. Er ist immer da. Und wenn er stockt, dann stirbt etwas ab oder schlimmer: vergiftet den Rest des Organismus, und er erliegt den Folgen der Nekrose. Ich bin mir sicher, dass die Länder, in denen Kunst und ihre Macher*innen rigoroser Zensur ausgesetzt sind, voll sind von toter Materie. Und trotzdem wird der Strom der Kunst weiterfließen, sich Wege bahnen. Ob im Krieg, im Gefängnis, in der Psychiatrie, und selbstverständlich an all den Orten, die für sie geschaffen wurden: Galerien, Theater, Literaturhäuser.

Wenn ich mir etwas von diesen herrlichen Orten wünschen dürfte, wäre es, dass sie sich für den gesamten Körper zuständig fühlen, nicht nur für seinen virtuos frisierten Schopf. Die Kunst (das Blut) muss auch zu den von Pilz befallenen Zehennägeln, zu den vernarbten Händen, zu den von Cellulite zerfressenen Schenkeln. Und das tut sie von allein, man muss sie gar nicht dorthin lenken. Sie macht ihre Sache auch ohne unsere Erlaubnis. Aber wir als ihre Kurator*innen bieten Räume an, stellen Bühnen zur Verfügung, verteilen Aufträge, veranstalten Konferenzen und sollten dabei nicht selbst zum Scheinwerfer werden, der nur jenen zum Glanz verhilft, deren Themen gerade Mode sind und die ein großes Publikum generieren. Man könnte die Orte der Kunst auch als Röntgengeräte betrachten, die einen Befund über die inneren Zustände des gesamten Körpers (einer Gesellschaft) versuchen: schlecht verheilte Knochenbrüche treten zu tage, irreparable Schänden an der Leber, ein zu großes, verfettetes Herz.

Als ich über die Lesung der Zukunft nachdachte, fiel mir neben Lyuba Yakimchuk noch ein anderer ukrainischer Lyriker ein: Serhij Zhadan. Seit 2014 bereist er von russischen Separatisten besetzte Grenzgebiete und liest den Menschen vor: in ausgebombten Schulen, in verlassenen Bibliotheken, auf improvisierten Bühnen mitten auf dem Feld. Seit kurzem ist Zhadan für den Nobelpreis vorgeschlagen (hier wären wir beim Scheinwerferlicht, von dem ich sprach), aber er macht schon viele Jahre das, wofür er jetzt erst internationale Aufmerksamkeit erlangt, und wird es vermutlich, solange er am Leben ist, weiter tun: Er macht Musik, schreibt Gedichte, fährt durch den Osten der Ukraine und spielt und liest jedem vor, der es hören will. Mal sind es Militärstützpunkte, die er anfährt, um Soldaten vorzutragen, mal sind es Siedlungen ohne Zuganbindung. „Ohne Bücher kommt man problemlos aus. Ohne Strom, ohne Heizung, ohne Kanalisation kaum. Und trotzdem haben wir immer und überall Bücher vorgefunden – ob in den Soldatenkantinen oder in einer Wohnung, die als Sammelstellte dient, wo Freiwillige auf dem Boden schlafen, die schon den dritten Tag entlang der Frontlinie unterwegs sind …“, schrieb Zhadan, schon vor der Kriegserweiterung 2022, über seine „Lesereisen“.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Weder plädiere ich dafür, dass wir zukünftige Lesungen nur noch an gefährlichen Orten und umkämpften Ländergrenzen veranstalten, noch schlage ich vor, dass wir als Kunstschaffende Militärstützpunkte abklappern. Mir ist jegliche Glorifizierung des Dienstes an der Waffe fremd. Die Militarisierung der Gesellschaft, schon der Aufruf dazu und der damit einhergehende Einzug der militärischen Begrifflichkeiten und ihrer Logik in die Alltagssprache, alarmieren mich.

Aber wenn ich an die Zukunft denke, sehe ich keine fliegenden Tesla, die ihre Bahnen um die obersten Etagen bunt blickender Hochhäuser ziehen. Ich sehe weder Elon Musk, noch Mark Zuckerberg, noch einen anderen dieser Männer, die gerade versuchen, die Kontrolle über unsere Zivilisation an sich zu raffen. Ich sehe Serhij Zhadan, ich sehe Lyuba Yakimchuk. Yevgenia Belorussets. Elisa Gonzalez. Polina Barskova. Valzhyna Mort. Koleka Putuma.

Ich stand unlängst mit der Dichterin Maria Stepanova auf einer Dachterrasse, wir sprachen über das Schreiben in Zeiten des Krieges. Maria schnipste die Asche ihrer Zigarette über die Kante und sagte: „Wir Schriftsteller sind wie Flaschenöffner: Wir haben eine seltsame Form und sind nur für eine Sache gut.“

Und das ist der Grund, denke ich, warum ich immer wieder auf die leere Seite auf dem Desktop meines Laptops starre. Ich schalte die Lautsprecherfunktion meines Telefons an, lege es neben die Tastatur, The Sunsilk Girl zersägt mein Ohr, während ich versuche zu schreiben, und die automatische Ansage des Bürgeramts Berlin fordert mich auf: „Bitte warten Sie!“

„Der Krieg ist nicht gemacht für Literatur“, schreibt Serhij Zhadan. „Den Krieg als literarisches Material zu nutzen zu versuchen ist das Schlimmste, was ein Schriftsteller tun kann. … Und doch ist es unmöglich, nicht über den Krieg zu schreiben. Über den Krieg muss geschrieben werden. Der Krieg braucht keine Ästhetisierung, aber er braucht Fixierung. Er braucht Zeugen …“

Natürlich gibt es also Gedichte über den Krieg. Es gibt Gedichte über jeden Zustand des menschlichen Seins, genau deshalb werden sie die Kriege und am Ende uns alle überdauern.

In seinem Gedichtband „Antenne“ schreibt Sherji Zhadan:

„Sprache ist Atem, gefüllt mit Sinn.

Sprache ist die trügerische Chance,

jemanden daran zu hindern,

von der Brücke in die Seine zu springen.“

Ich spreche heute Abend zu Ihnen, zu Menschen, die sich der Sprache im Sinne Zhadans verpflichtet haben. Ich spreche zu Ihnen, die Sie Räume herstellen, in denen dieses seltsame Ritual vollzogen werden kann: Ein einzelner kleiner Mensch klettert auf eine ihm bereitete Bühne, vielleicht steht sie mitten auf freiem Feld, sagen wir ganz in der Nähe einer Siedlung ohne jede Zuganbindung, um Atem, gefüllt mit Sinn, ins Mikrofon zu hauchen.

Sie haben mich eingeladen, mit Ihnen über die Lesung der Zukunft nachzudenken.

Ich glaube, auch in Zukunft wird die Oberfläche dieser Erde übersät sein von Kriegswunden. Und wir werden mit unseren Texten auf improvisierte Bühnen klettern, um, wenn wir sehr viel Glück haben, jemanden daran zu hindern, von der Brücke in die Seine zu springen.

Und ich glaube daran, weil ich weiß, wie oft Literatur das für mich getan hat.