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MK:

Mitten ins Herz.

In seinem Artikel für die Süddeutsche Zeitung beschreibt Jörg Häntzschel eindrücklich, wie Russland die Kultur der Ukraine systematisch plündert und zerstört – ein Jahr nach Kriegsbeginn. Lesen Sie den vollständigen Text hier.

Am 31. Oktober – die Russen waren kurz davor, die Stadt aufzugeben – trafen im besetzten Cherson 40 Männer ein, die anders aussahen als zermürbte Frontsoldaten. Mit ihren Lastwagen hielten sie vor dem Kunstmuseum und dem Museum für lokale Geschichte. Als sie am 4. November wieder abzogen, waren die Museen leer. 10 000 bis 13 500 Werke hatten sie abtransportiert, darunter wertvolle Gemälde, Ikonen und skythisches Gold. „Sie haben professionell geplündert“, so erzählt es Ihor Poshyvailo, Direktor des Kiewer Maidan-Museums und Leiter der ukrainischen Heritage Emergency Response Initiative, mit einem gewissen Sarkasmus. Eine Woche später wurde die Stadt von der ukrainischen Armee befreit.

Was aus den Werken wurde, blieb nicht lange ein Geheimnis. Andrej Malgin, der Direktor des Zentralmuseums von Taurida in der Krim-Hauptstadt Simferopol, erklärte Tage später, er sei „angewiesen worden, die Exponate des Kunstmuseums von Cherson zur vorübergehenden Sicherung zu übernehmen, bis sie an ihren rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden“.

„Sicherung“? Die russische Zeitung Nowaja Gaseta zitierte eine Augenzeugin, die berichtete, die Besatzer hätten die Werke „wie Müll“ auf die Armeelaster geworfen. Und ob Malgin mit dem „rechtmäßigen Besitzer“ das Museum in Cherson meinte, ist fraglich. Malgin, ein Putin-Getreuer, klagte schon 2014, die Ukraine habe „weder das Geld noch den Wunsch gehabt, sich um die Dinge zu kümmern, die Teil unserer imperialen, sowjetischen und russischen Geschichte sind“. Zehntausende Werke wurden in den zwölf Monaten des Krieges schon aus der Ukraine geschafft. Die New York Times spricht vom „größten kollektiven Kunstraub seit den Plünderungen der Nazis im Zweiten Weltkrieg“.

Doch die Russen plündern nicht nur, sie zerstören auch mutwillig. „Sie wollen alles vernichten, was auf eine eigenständige ukrainische Kultur und Kunst hindeutet“, sagt Małgorzata Ławrowska-von Thadden, Vizedirektorin des Warschauer Museums für Moderne Kunst und Gründerin von Obmin, einem Verband, in dem sich im vergangenen Sommer 41 ukrainische Museen zusammengeschlossen haben. Bei ihren wöchentlichen Zoom-Konferenzen mit Museumsleuten aus der Ukraine hört sie regelmäßig Dinge, „die wir uns kaum vorstellen können“.

Der Kiewer Museumsleiter Ihor Poshyvailo bestätigt das. Er hat im Herbst eine Tour durch die befreiten Gebiete gemacht und dabei zerbombte Kirchen und zerfledderte Bibliotheken dokumentiert: „Sie zerstören, was sie sehen, besonders das, was ihnen fremd erscheint.“ Nicht nur ukrainische Künstler werden angegriffen, sondern auch die Verantwortlichen der Kulturinstitutionen: „Wenn du ein Museumsdirektor oder ein Universitätsprofessor bist, bist du in Gefahr.“

Am schlimmsten steht es um die Museen in den von den Russen besetzten Gebieten. Das Museum für Regionalkunde in Luhansk: ausgeplündert; das Regionalmuseum in Rubischne und das Geschichtsmuseum in Lyssytschansk: weitgehend zerstört. Von dem Museum im zur Geisterstadt gewordenen Popasna sei „nichts übrig“, sagt Ławrowska. Die Museumsdirektorinnen und die Angestellten leben ein Stück weiter westlich, nicht weit von der Front, um in Kontakt mit ihren kämpfenden Ehemännern und Söhnen zu sein. Zwei der Ehemänner wurden erschossen.

Auch die bedeutenden archäologischen Stätten in der Oblast Luhansk, die fast vollständig in russischer Hand ist, sind zu 70 bis 80 Prozent zerstört, sagt Kilian Heck, Kunsthistoriker an der Universität Greifswald und gemeinsam mit der Kuratorin Olena Balun einer der Organisatoren der Initiative Ukraine Art Aid Center. „Die russische Armee hebt mit riesigen Maschinen Schützengräben aus, mitten durch die archäologischen Stätten. Sie sind für immer verloren.“

Geplündert und zerstört wurden auch viele Archive. „Russland instrumentalisiert die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, um den Krieg zu rechtfertigen. Es hat aus dem Staatsarchiv in Cherson gezielt Dokumente über den Krieg gestohlen“, sagt Ekaterina Malygina, die im Berliner Museum Karlshorst ein Projekt zur Sicherung von Archivbeständen in der Ukraine leitet.

Die Zahl der ukrainischen Kriegsopfer in Zivil oder Uniform übersteigt nach internationalen Schätzungen deutlich die Zahl von 100 000, Millionen Menschen sind auf der Flucht, haben ihre Häuser verloren oder leben in Angst, Verzweiflung und Kälte. Die Zerstörung von Denkmälern, Museen oder Archiven, so schlimm sie ist, mag im Vergleich mit dem menschlichen Leid zweitrangig erscheinen. Doch ist sie das? Mit dem kulturellen Erbe raubt man einem Volk seine Identität, sein Selbstvertrauen, seine Souveränität.

Aus diesem Grund gehörten von der Antike über die Napoleonischen Kriege, den Zweiten Weltkrieg bis hin zur Terrorherrschaft des IS Zerstörung und Raub von kulturellem Erbe zum Arsenal der Kriegsführung. Ebenfalls aus diesem Grund sind diese Praktiken seit mehr als 100 Jahren weltweit geächtet. Es war, Ironie der Geschichte, Zar Alexander II., der 1874 eine internationale Konferenz einberief, den Schutz der Kultur zum Teil des Kriegsrechts machte und damit die Grundlage für die „Haager Landkriegsordnung“ von 1899 schuf. Danach müssen „bei Belagerungen und Beschießungen … die dem Gottesdienste, der Kunst, der Wissenschaft und der Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude“ geschont werden. Ihre „absichtliche Entfernung, Zerstörung oder Beschädigung“ wie auch die von „geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der Kunst und Wissenschaft ist verboten und muss geahndet werden“. Plünderung ist „ausdrücklich verboten“. Nicht nur Angriffe auf Zivilisten sind also Kriegsverbrechen, sondern auch Angriffe auf die Kultur. Ein weiterer Russe, der Jurist, Maler und Schriftsteller Nicholas Roerich, entwickelte angesichts der Zerstörungen des Ersten Weltkrieges und der Oktoberrevolution die Landkriegsordnung weiter. 1954 wurde sie durch die Haager Konvention ergänzt, die den Schutz von Kulturgutschutz im Krieg noch erweiterte.

Doch in ihrem völkerrechtswidrigen Krieg fühlen sich die Russen natürlich auch durch die Haager Konvention nicht gebunden. Die Auslöschung von Identität und Geschichte scheint für sie kein Kollateralschaden, sondern zentrales Kriegsziel zu sein. Man konnte das schon im Mai sehen, als die Russen das frühere Wohnhaus des für die Identität der Ukraine bedeutenden Philosophen und Dichters Gregorius Skoworoda aus dem 18. Jahrhundert, heute ein Museum, mit einer Rakete zerstörten. Da war kein Eisenbahnknotenpunkt, keine Chemiefabrik in der Nähe, die man bedauerlicherweise verfehlt hat, nein, dieses Häuschen im Grünen war das strategische Ziel. Oder in Melitopol, wo russische Kunstexperten eine einzigartige Sammlung von skythischem Gold raubten. Putins Ideologen reklamieren das Erbe der Skythen seit Langem für Russland, eine Gruppe radikaler Rechter in Russland nennt sich „Die neuen Skythen“. Michail Pjotrowski, der Direktor der Eremitage in Sankt Petersburg, spricht vom gegenwärtigen als dem „Skythischen Krieg“.

Oder die zwei Bomben, die am 10. Oktober auf einen Spielplatz im Zentrum von Kiew fielen, nur wenige Meter entfernt vom Khanenko-Museum, vom Taras-Schewtschenko-Museum, der Kiewer Gemäldegalerie, der Nationalbibliothek und der Universitätsbibliothek. Es gibt in der Ukraine keinen Ort, an dem mehr kulturelle Schätze konzentriert sind. Der Schaden war begrenzt, berichtet Hanna Rudyk, die als Kuratorin im Khanenko arbeitet und jetzt im Exil in Berlin lebt. Die Fenster barsten, Fassade und Innenräume wurden beschädigt. „Aber der moralische Schock bei allen, die mit Kultur zu tun haben, war unbeschreiblich.“

Nach knapp zwölf Monaten Krieg listet das ukrainische Kulturministerium 1200 beschädigte, zerstörte oder ausgeraubte Kultureinrichtungen, Denkmäler und historische Gebäude auf. Darunter sind Dorfkirchen und das berühmte Kloster Swjatohirsk, Kulturpaläste aus der Sowjetzeit oder das berühmte „Steingrab“ Kamjana Mohyla aus dem Neolithikum, ein Kandidat für die Weltkulturerbeliste. Teils steht ein perfider Plan Moskaus dahinter, teils Raffgier namenloser Soldaten, teils Achtlosigkeit oder Aggression. Oft ist es alles zusammen. Nachdem die Museen in Cherson von Kunstkennern ausgeräumt worden waren, kamen die Soldaten, verwüsteten die Räume und plünderten die Technik: Computer, Klimaanlagen, sie montierten noch die Steckdosen und Fensterrahmen ab. Weshalb das Skelett des Gebäudes nun dem Verfall entgegenrottet. Sogar mit Hackerangriffen werden die Institutionen attackiert.

Die Verantwortlichen in der ukrainischen Kulturszene waren anfangs überrumpelt, doch dann haben sie schnell reagiert. Denkmäler wurden mit Sandsäcken eingepackt, Kunstwerke versteckt oder in die Westukraine evakuiert. Viele Museen haben ihre kostbarsten Werke von den Websites genommen, haben ihre Standorte bei Google löschen lassen, sodass die Russen es schwerer haben, sie zu finden. Spricht man mit ukrainischen Museumsleuten am Telefon, bleiben sie oft vage. „Wir sollen am Telefon keine Details zu den Sammlungen erwähnen“, erklärt Hanna Rudyk vom Khanenko-Museum. „Aus Sicherheitsgründen. Wir sind im Krieg. Es geht um das nationale Kulturerbe.“

Sehr bald haben die Institutionen auch Hilfe aus dem Westen bekommen. Berliner Museen schickten Verpackungsmaterial. Die Organisation Sucho begann, die Daten ukrainischer Kulturinstitutionen zu retten, indem sie systematisch Online-Archive kopierte und Back-ups von Servern machte. Spender lassen 3-D-Scans von wichtigen ukrainischen Denkmälern und Gebäuden anfertigen, damit im Fall der Zerstörung wenigstens Kopien bleiben. Das amerikanische Conflict Culture Research Network dokumentiert per Satellit die Zerstörung und hilft mit den Informationen Poshyvailo, die Hilfseinsätze zu lenken.

Die meisten Hilfsgüter aus dem deutschsprachigen Raum hat wohl das Ukraine Art Aid Center in die Ukraine gebracht. Die Organisation hat nicht nur 130 000 Euro Spenden gesammelt, sondern auch drei Millionen von der Kulturstaatsministerin erhalten und dafür 1500 Paletten mit 150 Tonnen Hilfsgütern an 500 Institutionen geschickt: Generatoren und Powerbanks, Schutzkleidung, Verpackungsmaterial, Scanner, Kameras und Holzplatten. Wenn man zwei übereinandernagelt, dann schützen sie sogar große Museumsfenster vor Bombenexplosionen, berichtet Olena Balun vom Ukraine Art Aid Center.

So erschütternd es ist, dass Kunsthistorikerinnen im Jahr 2023 solches Wissen brauchen, so optimistisch stimmt dieses Engagement. Ławrowska vom neu gegründeten Museumsverband ist sich sicher: „Alle wollen zurückkommen und ihre Museen wieder aufbauen.“

Jörg Häntzschel