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Die digitale Seele

Ein vollkommenes, unkaputtbares Wesen, womöglich in einer parallelen, neuen Welt – das ist Elfriede Jelineks Vorschlag am Ende von „Asche“. In dem Buch „Vom Ende der Endlichkeit. Unsterblichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz“ (Goldmann 2020) gehen die Autoren Moritz Riesewieck und Hans Block der Frage nach, inwiefern die Sehnsucht nach einer digitalen Überwindung des Todes heute bereits Wirklichkeit ist. Lesen Sie hier einen Auszug.

Es ist eine der ältesten Fragen der Menschheit: Was geschieht mit uns nach dem Tod? Jahrhundertelang war die Antwort auf diese Frage für die meisten Menschen im Abendland klar. Die Seelen fahren zu Gott in den Himmel auf oder schmoren in der Hölle. Doch wie aktuelle Studien zeigen, glauben immer weniger Menschen in Westeuropa an Gott und das ewige Leben im Jenseits, nur noch eine Minderheit betrachtet sich selbst als religiös. Andererseits glaubt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung: „Es gibt KEIN Leben nach dem Tod.“ Offenbar können nur wenige Menschen ohne Aussicht auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod auskommen. Noch fehlt eine neue (weltliche) Heilserzählung. Noch ist es nicht gelungen, den Sinn-Verlust auszugleichen, der für Milliarden von Menschen mit der Abwendung von der Religion entstanden ist. Es klafft eine gewaltige Lücke, was auch den Technologie-Unternehmen nicht entgangen ist, die die Leerstelle als Chance für die nächste große Geschäftsidee begreifen. In Aussicht stehen Milliarden potenzieller Kund*innen, die offen sind für eine neue zeitgemäße Botschaft, die sie von der Unausweichlichkeit des Todes erlöst. Im Windschatten der digitalen Revolution treten Start-ups aus der ganzen Welt in einen Wettlauf um einen gewaltigen Markt - den Markt der digitalen Unsterblichkeit.

Seit fünfzehn Jahren kommunizieren Menschen rund um die Uhr über Social Media- und Messenger-Dienste. Wir offenbaren in WhatsApp-Konversationen all die unterschiedlichen Facetten unseres Charakters, wir übermitteln unseren Smartphones tägliche Bewusstseinsströme. Von Shenzhen in China über Lasi in Rumänien bis nach Pasadena in den USA arbeiten Entwickler*innen weltweit daran, aus solchen intimen Daten nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen auszulesen, sondern die Muster unseres Verhaltens mithilfe Künstlicher Intelligenz zu imitieren. Ihr Ziel: unsere Persönlichkeiten über den Tod hinaus am Leben zu erhalten. Was wie das Skript eines Science-Fiction-Films klingt, ist längst auf dem Weg, Realität zu werden. Doch was steckt hinter solchen fragwürdigen Angeboten? Wie genau funktioniert diese Technologie? Was sind es für Personen, die alles dar-ansetzen, digital unsterblich zu werden? Und wie ergeht es denen, die versuchen, ihre Liebsten wiederauferstehen zu lassen - als digitale Klone?

Digitale Seele

Auf viele von uns wirkt der Begriff der Seele verstaubt und spekulativ, die Hirnforschung widerspricht ihrer Existenz, und auch die wissenschaftliche Psychologie will schon lange keine Seelenkunde mehr sein. Dennoch ist die Seele bis heute fester Bestandteil unseres täglichen Sprachgebrauchs - oft ohne, dass wir uns dessen bewusst wären. Jemand ist „eine gute Seele“ oder „eine Seele von Mensch“. Wir lassen (viel zu selten!) „die Seele baumeln“ und geben uns der „Seelenruhe“ hin. Zwei Menschen können „ein Herz und eine Seele“ sein und ihren „Seelenverwandten“ finden. Wenn wir Traumatisches erleben, sorgen wir uns um unser „Seelenheil“. Die Seele soll leiden und erkranken können. Und bisweilen haben wir das Gefühl, unsere „Seele verkauft“ zu haben. Während die Seele aus dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht wegzudenken ist, haben die Neurowissenschaften sie jedoch vollständig aus ihrem Wortschatz verbannt. An die Stelle der Seele ist das Bewusstsein getreten, eine Entität, die sich anhand von Hirnströmen schlichtweg besser messen lassen soll. Aber ob ein Mensch, der im Koma liegt oder hirntot ist, damit also nachweislich kein Bewusstsein mehr hat, ob solch ein Mensch darum auch seine Seele verloren hat? Dem würden die allermeisten von uns wohl entschieden widersprechen. Ob während einer Vollnarkose, im Tiefschlaf oder in der Trance: Wir büßen nicht unsere Seele ein, nur weil unser Bewusstsein vorübergehend außer Kraft gesetzt ist. Die Seele eines Menschen vergeht nicht, nur weil sie nicht zutage tritt.

Aus der Idee der Seele sind die universalen Menschenrechte und unsere Vorstellungen von der Würde aller Menschen hervorgegangen. Die Seele steht für das, was sich hinter allen Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen von Menschen verbirgt. Sie steht für unsere Liebenswürdigkeit, unsere (unerfüllten) Potenziale, für den Teil von uns, der sich nicht so leicht erschüttern lässt durch die Wirrungen des Alltags - und der trotzdem offenbar daran erkranken kann. Die meisten von uns Menschen wollen sich nicht als das begreifen, als was uns die Mehrheit der Neurowissenschaftler*innen nun schon seit einigen Jahrzehnten betrachtet: als ein komplexes, aber letztlich unwillkürliches Zusammenspiel aus biochemischen und neurophysiologischen Prozessen, Hormonen, Hirnströmen und der Welt, die uns umgibt. Für Willensfreiheit, wie wir alle sie uns jeden Tag aufs Neue einbilden, ist da wenig Platz. Für eine Seele noch weniger. Wie wir sehen werden, ist die Hirnforschung allerdings beileibe nicht imstande, die schwierigen Fragen über das Bewusstsein des Menschen zu beantworten.

Ebenso wenig kann sie erklären, warum die Mehrheit der Menschen in Westeuropa davon überzeugt ist, eine Seele zu haben, obwohl die meisten Menschen spirituelle Konzepte ablehnen? Die Seele scheint mehr zu sein als eine religiöse oder spirituelle Idee. Es fühlt sich einfach auf eine bestimmte Weise an, ich selbst zu sein. An der Seele hängt nicht zuletzt unser Verständnis von Liebe. Auch die ist schließlich aus Sicht von Neurowissenschaftler* innen nichts weiter als ein Zusammenwirken von Dopamin, Serotonin und Oxytocin. Und trotzdem kämen wir nicht auf die Idee, statt „Ich liebe dich“ zu sagen: „Du lässt meinen Dopaminspiegel steigen.“ Oder: „Du tust meiner Oxytocin-Ausschüttung gut.“ Weil wir wohl zu Recht das Gefühl haben, dass die Botenstoffe nicht Auslöser, sondern Teil eines nicht gänzlich erklärbaren Phänomens sind.

Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Das Gleiche gilt für die Seele. Was sie ist, kann der Verstand nicht erklären, aber Liebende haben wohl nicht ohne Grund das Gefühl, einander ihre Seelen zu offenbaren. Wir sind mehr als die Summe unserer Teile: Diese Überzeugung teilen auch Menschen, die mit Spiritualität nichts am Hut haben. Warum sollte man herumdrucksen, wenn sich für dieses „Mehr“ seit Jahrtausenden ein Begriff eingebürgert hat, der das unerklärliche Auftauchen des Geistes auf den Punkt bringt: die Seele. Doch wer beschwört die Seele, wer besingt sie und umsorgt sie, jetzt, da hierzulande immer weniger Menschen einen Fuß in die Gotteshäuser setzen? Es ist eine Leerstelle entstanden, eine „transzendentale Obdachlosigkeit“. Und wie immer, wenn irgendwo eine Leerstelle entsteht, ist der Versuch, diese zu füllen, längst im Gange. Doch nicht etwa spirituelle Gurus, neuartige oder fernöstliche Religionsgemeinschaften oder Esoteriker*innen haben die größte Aussicht, der Seele neuen Sinn zu verleihen, sondern ausgerechnet jene Menschen, die glauben, alles in Einsen und Nullen übersetzen zu können: die Apologeten der Digitalität.

Buchcover: "Vom Ende der Endlichkeit" von Moritz Riesewick und Hans Block