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MK:

Digitales Programmheft „Fremd“

Fremd

Das Fremde, das Fremdheitsgefühl betrifft viele, denen Michel Friedman diesen Text gewidmet hat. 54 Absätze sind dort nachzulesen, absolut komprimierte Sprache, atemlose Gedankenfetzen.

Dies ist ein Buch über das Fremdsein.
Das Fremde – das äußere und das
innere.
Wer wie ich bis zum achtzehnten
Lebensjahr
mit einem Staatenlosen-Pass lebte,
wer wie ich Eltern hatte, die aus Polen
stammten und die Shoa überlebt
haben, in Paris aufgewachsen ist und
als jüdisches Kind nach
Deutschland kam, lebt im Nirgendwo.
Ist heimatlos.
Eine Erfahrung, die exemplarisch für
viele
Menschenschicksale sein könnte.
So ist dieses Buch allen Menschen
gewidmet, die irgendwo im Nirgendwo leben.

Irgendwo im Nirgendwo. Was dieses Grundgefühl seines Lebens bedeutet, schildert das Kind in seiner nicht enden wollenden Gedankenkette, vom Kind ins Erwachsenenalter. Mama- Papa-Kind sind die Koordinaten seiner Welt, in der ausgerechnet das Kind die Verantwortung fürs Leben, fürs Überleben, fürs Weiterleben übernehmen muss, denn seine Eltern sind Überlebende. Mama-Papa-Kind, kennen die meisten von uns. Nur hier sind die Voraussetzungen so anders, dass dieser Text jäh erhellend ist, einem körperlich einfährt, wie es ist, wenn man nicht den „richtigen“ Pass hat, nicht zur Mehrheit gehört, wenn man die „richtige“ Sprache nicht beherrscht. Noch schärfer ausgedrückt:

Was heißt es, wenn die eigenen Eltern „Brennmaterial“ waren für die Nazis? Hätten sie nicht auch das Kind töten wollen? Warum ist das Kind da, warum ist es dafür geboren, dass es hätte getötet werden sollen?

54 Kapitel in „Fremd“ stehen für die 50 Toten der Familie und für vier Überlebende: Mama, Papa, Kind, und die Großmutter. Von Oskar Schindler gerettet, leben sie nach einer gescheiterten Rückkehr in ihre Heimat Krakau zunächst in Paris, dann übersiedelt die Familie ausgerechnet nach Deutschland. Nur die Großmutter kann sich das nicht mehr vorstellen. Und das Kind ist erstaunt, dass dieses Land nicht aus großen Gefängnissen für sehr, sehr viele Mörder besteht, sondern nach Wohlstand duftet. Das Kind schildert den Kampf, in diesem Land ein „normales“ Leben zu führen. Sein Kindheitsberuf: „Lebensübersetzer“ für die Eltern, denen die Umstände des Faschismus und des Krieges die Möglichkeit geraubt haben, genug Bildung anzusammeln, um sich zu wappnen gegen Ausgrenzung und Abwertung. In bitterer Konsequenz besteht der Vater auf der Bildung seines Kindes, denn das, „was im Kopf ist, können sie Dir nicht nehmen.“ Sprechen können heißt Mitsprechen heißt Handeln. Im besten Fall. Das Kind strengt sich an, kriegt ein Abiturzeugnis und später ein Bundesverdienstkreuz. Oft aber siegt die innere Angst, siegen die Schatten, die Erinnerungen. Und in Deutschland heulen die „Wölfe“ schon wieder. Das Kind muss Abschied nehmen von den Eltern, auf den es von ihnen nicht vorbereitet worden ist. „Trauer bringt um, Trauer lähmt, Trauer zerstört. Zumindest am Anfang, der lange dauern kann. Wie lebt man? Weiter. Kein Zeitgefühl. Kein Menschengefühl. Kein Lebensgefühl.“ Das Kind wütet, will sich selbst auslöschen und macht doch weiter.

In „Fremd“ geht es nicht nur um die Geschichte eines jüdischen Kindes in der Vergangenheit, es geht um viele Meschen in vielen Minderheiten, um Communities, die Diskriminierungserfahrungen teilen, um Migrant*innen, um Queere. Es geht um uns, die wir immer wieder wegschauen, misstrauen, verharmlosen, nicht mitfühlen, nichts fühlen. Es geht um Jetzt. Michel Friedman warnt vor einem Jahrhundert der Diktatur: „Ich verstehe nicht, warum Menschen, die selbst keine Juden sind, nicht bemerken, dass dort, wo die autoritäre Geisteshaltung ihren Platz gefunden hat, nicht nur die Minderheiten, sondern auch sie selbst ihre Lebensqualität verlieren. Die Schlinge des Autoritären schließt sich auch um ihr Leben.“

Die Schauspielerin Katharina Bach und die Regisseurin Katrin Lindner haben sich diesem Text gestellt und bringen ihn in einer maximalen Direktheit auf die Bühne. Zwischen dem Text und den Zuhörenden gibt es nichts, was ablenken oder moderieren könnte, kein Bühnenbild, keine gepflegte Distanz des Rezitierens, sondern der Text läuft durch den Körper der Spielerin, ergreift Besitz von ihm. Die sichere Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum ist aufgebrochen, wir sind in einem Gespräch. Wir sitzen als Wir einer einzelnen gegenüber. Die Proben bestanden aus vielen Durchläufen, Nachdenken, wieder durch, wieder rein – in das Fremde.

Viola Hasselberg

Lesen Sie hier einen Auszug aus Kapitel 26 des Buchs “Fremd – 54 Kapitel für 50 Tote der Familie und vier Überlebende” von Michel Friedman!

Mit Theater gegen Antisemitismus

Lesen Sie hier ein Interview der SZ mit Schauspielerin Katharina Bach!

Lesen Sie hier einen Auszug aus Kapitel 13 des Buchs “Fremd – 54 Kapitel für 50 Tote der Familie und vier Überlebende” von Michel Friedman!

Manuela Bojadzijev und Alexander Harder über das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein. Der Beitrag wurde 2021 veröffentlicht von der Bundeszentrale für politische Bildung.

„Warum haben Elefanten rote Augen? – Damit sie sich besser im Kirschbaum verstecken können.“
„Aber ich habe noch nie einen Elefanten in einem Kirschbaum gesehen!“
„Da kannst Du mal sehen, wie gut die sich verstecken können“.

(aus: „Fremd“)

„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, so lautet die erste Zeile des Liederzyklus´ „Winterreise“ von Franz Schubert. Der Protagonist reist hier von der Fremde in die Fremde, immer weiter und ohne jemals wirklich anzukommen; bleibt ein Fremder bei jeder Begegnung, bleibt ein Fremder für sich selbst.

Katharina Bach hat das Lied Schuberts neu interpretiert und leitet damit atmosphärisch in die endlose Fremde der Produktion ein. (Kopfhörer sind empfohlen)

In „Fremd“ werden die Figuren gejagt. Ob die Eltern des Protagonisten von den Nazis, oder der Protagonist selbst von den Schatten der Vergangenheit – alle werden sie gejagt von der Angst.

In ihrem Gedicht „Rezept“ fordert Mascha Kaleko deshalb, stattdessen die Ängste fortzujagen. Und die Angst vor Ihnen gleich mit.