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MK:

„Ich träume von dem Tag, an dem ich keine Patriotin mehr sein muss“

Oksana Lemishka hat als Soziologin die Entstehung von „Green Corridors“ sowie die Proben intensiv begleitet. Im Gespräch mit der Dramaturgin Viola Hasselberg erzählt sie, warum sie beim ersten Lesen des Stücktextes intuitiv alles zu einer „positiveren Version“ korrigieren wollte und warum dieser Text für sie besonders wertvoll ist.

Viola Hasselberg: Einige Figuren in „Green Corridors“ scheinen relativ realistisch oder typisch zu sein. Wer ist wer in dieser Gesellschaft von geflüchteten? Da gibt es die einsame „Katzenfrau“ aus Tschernihiw mit einer sowjetischen Mentalität, eine Hausfrau aus Charkiw mit drei Kindern, deren Mann an der Front kämpft und getötet wird, es gibt die junge Nageldesignerin aus Butscha, die von Burjaten vergewaltigt wurde und der Hölle entkam. Es gibt eine etwas arrogante Schauspielerin aus Kyjiw, die unter ständiger Beobachtung aller anderen steht, sowie einen kanadischen Bürger mit ukrainischen Wurzeln, der mit Hunden handelt und durch den Krieg Gewinne macht. Wie ist die Dynamik in der Gruppe, wie sehen die Hierarchien aus, welche Sorte von Konflikten gibt es?

Oksana Lemishka: Die Konflikte in dieser Gruppe sind meiner Meinung nach typisch für jede Gruppe, die mit ähnlichen Umständen konfrontiert wäre. Wann warst du zuletzt schlaflos und wütend? Wie gerecht hast du dich in diesem Zustand den dich umgebend Menschen gegenüber verhalten? In unserem Stück nehmen die Konflikte natürlich lokale Färbungen an: Sowjetische Mentalität, Zugehörigkeit, Sprache, mit Russland verbundene Vergangenheit – all das kann zum Streitpunkt werden. Die russische Propaganda zielt übrigens vor allem auf diese internen Probleme unter den Ukrainern ab. Troll- und Bot-Farmen arbeiten rund um die Uhr, um interne Konflikte zu schüren.

Interessant ist dabei für mich, wie die Gesellschaft im Krieg den Typus des idealen Patrioten konstruiert: Je mehr man leidet, desto mehr hat man das Recht, als echter Zugehöriger einer kollektiven Erfahrung bezeichnet zu werden. Deshalb erntet die Figur der Schauspielerin auch so viel Aufmerksamkeit. Kann sie eine echte Ukrainerin sein, wenn ihr Haus gar nicht zerbombt wurde und alle ihre Verwandten in Sicherheit sind? Erwähnenswert scheint mir, dass Natalka Vorozhbyt eher die dunklen Seiten der jetzigen Ereignisse herausstreicht. Vielleicht können wir ja eines Tages auch ein Stück machen über die unwahrscheinliche Solidarität unter den Ukrainern, ihre Unterstützung untereinander oder von außen?

Viola Hasselberg: In dem Stück geht es nicht nur um die aktuelle Kriegssituation, sondern auch um drei Figuren aus der ukrainischen Geschichte. Natalka Vorozhbyt versetzt diese drei Figuren in eine Filmkulisse: Der Komponist Leontowytsch (1921), der Nationalistenführer Bandera (1959) und die Dichterin Teliha (1942). Warum zeigen diese drei Figuren Schlüsselsituationen der ukrainischen Geschichte? Man kann das Gefühl bekommen, dass in der Ukraine im letzten Jahrhundert permanent Verfolgung und Krieg herrschten.

Oksana Lemishka: Das ist völlig richtig, das letzte Jahrhundert ist für die Ukraine durch die enormen Anstrengungen gekennzeichnet, ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Das sowjetische Regime hat nicht nur die Intelligenzija physisch zerstört und Bedingungen dafür geschaffen, dass der Einzelne mittelmäßig blieb, das sowjetische Regime hat auch daran gearbeitet, das Verhältnis der Ukraine und Europa zu zerstören bzw. in seiner Bedeutung herunterzuspielen. Erst in den letzten dreißig Jahren der Unabhängigkeit bekamen die Ukrainer die Chance, sich selbst neu zu erfinden. Ein Theaterstück in Westeuropa zu zeigen, das diese sensiblen Punkte der ukrainischen Geschichte und Identitätsbildung berührt, ist daher sehr wertvoll.

Die historischen Figuren stammen aus drei unterschiedlichen Epochen, die alle der Wunsch nach einer unabhängigen Ukraine eint. Einige, wie die Schriftstellerin Teliha oder der politische Führer Bandera wurden wegen politischer Fehler verurteilt, sie arbeiteten mit den Nazis zusammen, um dem russischen Feind zu widerstehen. Andere wie der Komponist Leontowytsch waren einfach außergewöhnliche Künstler. Abgesehen davon, dass sie die Unabhängigkeit der Ukraine aufgebaut haben, weigerten sich alle, vor dem sicheren Tod durch Verfolgung zu fliehen, alle drei wurden von den Nazis oder Sowjetregimen getötet.

Es gibt diese unglaubliche Kraft, die einen trotz Drohnen und Raketen nach Hause ruft. Natalka Vorozhbyt erforscht diese Kraft. Die historischen Bezüge haben mich auch an heute denken lassen: Wie sehr haben wir, die demokratische Welt, mit Putin zusammengearbeitet - durch Geschäfte, durch Dialoge, durch das Verschließen der Augen vor seinen Kriegen? Werden wir von kommenden Generationen für schuldig befunden werden? Denjenigen, die mehr über die Entwicklung der Ukraine erfahren wollen, empfehle ich das Buch von Serhii Plokhy „Die Tore Europas“.

Viola Hasselberg: „Green Corridors“ sucht nach emotionalen Wendungen, nach „Was-wäre-wenn“-Situationen, die diskutiert oder durchgespielt werden, das Stück ist realistisch und meta-realistisch zugleich, sehr sarkastisch und humorvoll. Welchen Lektüreeindruck hattest Du als ukrainische Soziologin? Was löst das Stück bei Dir aus, wie denkst Du über sein Ende?

Oksana Lemishka: Ich lese das erste Mal ein Stück über einen Krieg, den ich selbst erlebe. Zuerst weigerte ich mich, das, was ich las, zu glauben, ich wollte Abstand gewinnen und alles zu einer „positiveren Version“ korrigieren. Bin ich vielleicht wie diese Schauspielerin im Stück? Wenn ja, weiß ich jedenfalls, dass auch sie ziemlich leidet. Ich danke Natalka für ihren Humor und Jan Gockel für seine künstlerische Interpretation des Endes. Es lässt uns hoffnungsvoll zurück. Ich persönlich teile diese Hoffnung, auch wenn ich als Soziologin weiß, wie lange wir brauchen werden, um unsere Häuser und Seelen zu reparieren.

Viola Hasselberg: In diesem Stück tauchen viele Geister auf. Gute Geister, wie die Ahnen der vergewaltigten Frau aus Butscha, die ihr im entscheidenden Moment helfen zu überleben. Aber auch Geister, die als „wandelnde Trauma“ Menschen verfolgen, die sich an keinem Ort jemals mehr sicher fühlen können. Wie interpretierst Du die Geister? Sollen wir mit ihnen reden?

Oksana Lemishka: Wovor ich mich am meisten fürchte, sind wandelte Traumata. Sie sind tief verwurzelt und können in die nächsten Generationen weitergegeben werden, Russland setzt in diesem Krieg alle unvorstellbar blutigen Mittel ein, um genau diese Traumata zu erzeugen. Die Figur der „Nageldesignerin aus Butscha“ ist ein perfektes Beispiel.

Die „guten Geister“, wie Erscheinungen unserer Vorfahren oder z.B. die Motonka Puppen in einer weiteren Szene (Motonka Puppen sind handgefertigte Puppen, die eine Familie vor dem Bösen schützen soll), sind Symbole der nationalen Geschichte, des Stolzes, der Zugehörigkeit. Sie helfen uns heute, uns gegen den Versuch Russlands zu wehren, uns mit seiner Welt zu verschmelzen. Für Deutsche mag es befremdlich klingen, dass Nationalität ein Schutzschild sein kann, aber für uns ist es heute so. Ich träume trotzdem von dem Tag, an dem ich keine Patriotin mehr sein muss, sondern mein Leben, wie alle anderen, in friedlichen Gemeinschaften leben kann.

Viola Hasselberg: Du hast als Soziologin viel über die Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Ukraine in den letzten Jahrzehnten geforscht. Gibt es nach einem Jahr Krieg überhaupt noch eine Zivilgesellschaft? Was sind heute die wichtigsten Bedürfnisse dieser Gesellschaft?

Oksana Lemishka: Die ukrainische Zivilgesellschaft ist heute einer der wichtigsten Akteure des Widerstands. Die renommierte Wissenschaftlerin Kateryna Zarembo erörterte kürzlich in einem Podcast die Frage, ob einfache Menschen einen Diktator besiegen können? Unsere Antwort ist ein klares Ja. - Was werden wir brauchen? Wenn der Krieg gewonnen und die Waffen niedergelegt sind, werden wir eine „healing culture“ brauchen. Wir wissen, dass Traumata nicht nur in den Räumen von Therapeuten geheilt werden. Sondern dabei helfen auch städtische Räume, öffentliche Diskussionen, kulturelle Angebote, Architektur.

Viola Hasselberg: „Green Corridors“ wird zeitgleich in Kyjiw geprobt, die ukrainische Erstaufführung kommt im Mai 2023 raus. Hast Du eine Vermutung, wie das Stück, das eigentlich für einen europäischen Kontext geschrieben wurde, in der Ukraine wahrgenommen werden wird?

Oksana Lemishka: Ich bin genauso gespannt wie Du. Ich fürchte, wir werden diese „Ha! Diese Flüchtlinge hätten erst gar nicht ins Ausland gehen sollen“-Reaktionen kriegen. Das Stück zeigt viele Trauma und ist für Ukrainer*innen vielleicht nicht leicht aufzunehmen in dieser Situation. Viele freuen sich aber auch auf die Ausführung. Warten wir es ab. Schließlich hat man im Theater, anders als im Leben, die Wahl, das, was passiert zu erleben – oder nicht.