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MK:

Asche zu Asche

Die Natur ist eine Katastrophe. Sie traut sich dennoch immer wieder raus. Kein Wunder, daß wir ihr so viel angetan haben! Sie hat uns die Gelegenheit dazu gegeben und verdient es vielleicht nicht besser. Warum kleidet sie sich nur immer in Schreckliches? Damit wir ihre Schrecken noch verstärken, vielleicht um sie zu bannen? Um ihre unendlichen Vielfältigkeiten unserer Einfalt anzupassen? Sie kann nicht groß und schrecklich genug sein, daß wir ihr nicht unsere Herrschaft überstülpen könnten, um sie endlich zu ersticken. Was wird es dann sein, das wir einatmen? Wir benennen sie in unserer bodenlosen Dummheit, sie folgt uns aber nicht, und das ist sie dann wirklich: bodenlos, uferlos, nichts vom Nichts und alles von Allem. Etwas, das gleichzeitig höher und tiefer ist, im Vergleich mit allem, was nicht ist. Und doch so klein wie wir, sonst könnten wir das alles nicht fassen.

Ich habe mir zum Führer (ist das der Fährmann Charon, der einen Obolus von uns verlangt, damit wir rein dürfen ins Totenreich, raus aber nimmer? Ein Fährmann mit Sensenrequisit und Kapuze wie bei Woody Allen in “Scoop”?) in dieses Nichts, vor dem wir dort stehen werden, die Texte der Vorsokratiker ausgewählt, weil ich sie nicht verstehe. Sie sind Rätsel. Man muß schon Musiker sein, um jemand von dort wieder rausholen zu dürfen. Es geht trotzdem bekanntlich nicht gut aus. Da ich aber das meiste andre auch nicht verstehe, muß ich schauen, wohin meine Blindheit mich führt, denn der Höllenhund ist kein Blindenhund. Er wird mich erwarten mit seinen drei Köpfen, nicht leiten, das kann höchstens die Leitplanke erledigen. Die haben Menschen hingebaut, daher ist sie sehr lang ausgefallen, landein, landaus. Wenn ein Fahrzeug mal ausfällt, dann pickt es dort, denn nichts ist grenzenlos, das meiste ist begrenzt wie eine Weltanschauung oder beschrankt wie ein Bahnübergang oder beschränkt wie ich in Fragen des Todes und andren Fragen, die sich daraus ergeben. Wo ist dieser Mensch jetzt wieder hin? Wenn das Sein anbricht und nicht wartet, daß wir es selbst anbrechen, um etwas davon zu essen, wenn es also anbricht wie der Tag, oft auch zum Genuß, falls es dafür geeignet und nicht allzu ungesund ist, dann kann es auch abbrechen. Das Leben wird eben manchmal mittendrin einfach abgebrochen. Dann macht es Ernst, und man versteht das alles erst recht nicht. Haben schon gewählt, fragt die Servierkraft, die uns mit einem Schläger (ich spiele leider nicht Tennis und auch sonst nichts) aufs Feld schmettert, statt des Balls hat sie uns selbst erwischt, und natürlich ist es kein Feld der Ehre, wo wir landen; es gibt keinen Heldentod, nur ein Erlöschen auf der tartarischen Bahn oder eben auf der Aschenbahn, es klebt noch etwas an den Fußsohlen, etwas Welt, die nimmt der Tote, der bald selber Asche sein wird, einfach mit, er trägt sie auf sich, er verträgt sie, bis das Feuer brüllend auf ihn einprügelt, in ihn einschlägt, eine Macht, der alles unterliegt, auch die der Sprache, die mir jetzt fehlt, so wie ein Mensch mir jetzt fehlt, der sich in einem Töpfchen befindet, auf einem Friedhof, einem friedlichen Hof mit etwas Grün um die Steine und keinem Fleisch um die Knochen.

Ich wollte, es wäre auch in mir endlich Friede. Aber davor bitte noch etwas Musik, Gustav Mahler, diesmal sogar mit seinem eigenem Text!, nicht einmal die zwei blauen Augen, in die dieser fahrende Geselle geblickt hat, sind blau. Die Augen, die ich meine, nicht meine, die mit Blicken geworfen haben, waren braun, auch von den Augen ist jetzt nichts mehr übrig. Von meinem lieben Toten sind insgesamt ein, zwei Handvoll von etwas übrig, dem ich sogar in Gedanken noch ausweiche, weil ich es nicht aushalte, mit einem Paar Augen in kein Paar Augen hineinzuschauen. Aber es wird nichts zurückgestellt ins und an das Sein. Was der Tod einmal hat, das gibt er nicht mehr her. Alles, was der Fall war, ist auch gefallen, die Natur nimmt das gar nicht zur Kenntnis. Das Nichts wird nicht registriert, es bekommt keine Nummer, es muß sich nicht anmelden, so diskret ist es, es will seinen Namen nicht aufgerufen hören: Es ist da, ohne dazusein und ohne daß man es merkt, sagt mein Hausphilosoph Heidegger, der immer etwas andres sagt als ich glaube, gelesen zu haben (auch er ist sicher schon längst meiner müde, weil ich immer noch nach ihm greife, er ist schon ganz abgegriffen von all den tappenden Händen, meinen Greifern, die sich Stücke von ihm herausfetzen, als wären sie selbst Vögel, die sich jederzeit auch wieder erheben können, auch über ihn). Das Nichts also — das ist höher und tiefer als das Un-seiende — zu groß und würdig, als daß jeder Beliebige oder gleich alle zusammen so vor ihm stehen dürften. Und doch steh ich da. Jetzt steh ich da! Wie die Sonne am Himmel, der ich auch verschiedenes zuschreibe, das sie empört ablehnen würde; wir bewegen uns um sie herum, entweder wir bleiben nicht lang, oder sie bleibt einmal weg, gerade wenn es für uns besonders ungünstig ist, weil wir was vorhaben. Wo können wir den Öffner ansetzen? Doch auch die Sonne ist unsrer längst müde. Was sie uns in ihrem Schein sehen läßt, das läßt sie zu unsrem Verderben werden, damit wir endlich sehen, daß sie kein bloßer Schein ist, sondern uns zum Verschwinden bringen kann, jederzeit, gerne. Jetzt steh ich da, sagt man hierzulande, wenn man nicht weiter weiß. Und das sagt schon alles, weil es viel mehr über sich hinaus sagt, und zwar daß man am Ende ist, an dem man nichts mehr ändern kann mit seinen leeren Händen, die nichts mehr zu geben haben. Es ist so wenig, daß man niemandem damit nachrennen würde, es lohnt sich nicht. Dieses Gefäß, diese Urne mit Asche, welche das Feuer geschaffen hat (irgendwas muß es ja tun, etwas reintun in dieses Topferl), das kann unmöglich einmal gelebt haben! Der ähnelt nichts mehr, dieser Haufen, nichts, das man je gekannt hat, nichts außer Dreck, der sich im Staubsauger versteckt. Das bleibt einem übrig, während die Natur, die Welt ringsum angebrochen und wieder zusammengebrochen ist und sich gerade wieder, es ist Frühling, neu angekündigt hat mit ihrem Kommen, gern einmal wieder, der Frühling soll sich ja nicht unterstehen, nicht zu erscheinen, mit wärmerer Luft und strahlenderer Sonne. Wem untersteht das alles? Es untersteht sich wirklich! Unterstand ist es keiner. Der Unterstand ist ein kleines Töpfchen mit den Guten, die Schlechten haben wir schon gefressen. Jemand sitzt da und sortiert das alles auseinander, ein Maxwellscher Dämon? Da sitzt und sortiert er. Ein Wesen, das Moleküle sehen kann, kalte und warme, öffnet und schließt die Verbindungsöffnung eines Behälters so, dass sich die langsamen Moleküle in der einen Hälfte sammeln und die schnellen in der anderen. Die eine Hälfte wird damit immer kälter, die andere immer wärmer. Das Öffnen des Türchens benötigt keinerlei Kraftaufwand, aber die Wirkung dieses Wanderns wäre dann eine Art Wärmkraftmaschine. Sie würde ohne jede hinzugefügte Energie funktionieren, ein Perpetuum Mobile. Bewegung ohne Energiezufuhr. Doch die blöden Toten reißt es nicht heraus, so wie uns nichts rausreißt, was wir je tun könnten oder je getan haben, voreilig wie drängelnde Asche, die dorthin strömt, wohin sie geschüttet wird.

Hier ist ein Mensch in einem kleinen Topf. Er hätte sich für etwas erwärmen können, ja, er hätte bei mir bleiben können, doch das war ihm nicht genug. Er mußte sich verändern. Wir hätten ja selbst ganz bei uns bleiben können, aber das war uns nicht genug. Den Toten ists egal.

– Elfriede Jelinek