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MK:

Programmheft "Jeeps"

Jeeps

Die Einkommensverteilung in Deutschland ist offensichtlich nicht gerecht. Noch ungleicher ist aber die Verteilung des privaten Vermögens, welches durch das individuelle Erbprinzip traditionell in der Familie bleibt. Dabei wird aktuell in Deutschland so viel vererbt und verschenkt wie noch nie: Nach Schätzungen des Instituts der deutschen Wirtschaft bis zu 400 Milliarden Euro im Jahr. Wie verhält sich diese erhebliche Summe „leistungslosen Vermögens“ zur Gesellschaftsidee der Leistungsgerechtigkeit? Wie beeinflusst die Aussicht auf ein Erbe individuelle Lebensentscheidungen? Wann und wie zeigen wir, dass wir Geld haben? Und warum lässt sich weitgehend unhinterfragt leistungslos erben, während Arbeitslosgengeld-II-Empfänger*innen regelmäßig ihren Leistungs- und Arbeitswillen beweisen müssen?

Mit messerscharfem Blick und schwarzem Humor entwirft Nora Abdel-Maksoud in „Jeeps“ das Szenario einer skurrilen Erbrechtsreform. Die Reform verlagert den Zufall, in eine mittellose oder wohlhabende Familie geboren zu werden, auf den Zeitpunkt des Vererbens. Ohne Ansehen der Person, ohne Berücksichtigung der privaten Umstände wird im Todesfall jedes Erbe staatlich konfisziert und der Vermögensstatus eines jeden per Zufallsprinzip neu verlost. Zur bürokratischen Umsetzung dieser tiefgreifenden Änderung wird ausgerechnet das Jobcenter auserkoren: Es verwaltet nunmehr nicht ausschließlich Armut und Arbeitslosigkeit, sondern auch Vermögen und Erbschaften. So nimmt der Text die zwei Extreme der gesellschaftlichen Verteilungsdebatte gleichzeitig ins Visier: Wieviel Geld sichert die Existenz? Und wer gibt wann etwas ab?

Im Stil einer Mockumentary zoomt „Jeeps“ in den Mikrokosmos der Behörde nach der Reform: Der Parkplatz des Jobcenters ist plötzlich mit den Geländewägen der „Neuen Kunden“ zugeparkt, die Warteschlangen der Enterbten ziehen sich ins Endlose. Drinnen sieht sich die Jungunternehmerin Silke nach der staatlichen Enteignung zum ersten Mal in ihrem Leben existenziell bedroht. Zwischen Trauer und Verzweiflung schwebend wehrt sie sich mit radikalen Mitteln gegen die Mühlen der Bürokratie. Sie trifft auf Maude, eine in Formular- und Regelsatzfragen erfahrene ehemalige Erfolgsautorin. Gemeinsam setzen sie sie sich gegen den prinzipientreuen Verwaltungsfachangestellten Gabor und seinen Kollegen Armin zur Wehr – zwei Mitarbeiter des Jobcenters, deren Lebenswege und Überzeugungen unterschiedlicher nicht sein könnten. In einem furiosen Schlagabtausch spitzen sich die Konflikte zu und die Situation gerät zunehmend außer Kontrolle. Alle werden mehr als eine Überraschung erleben, jeder gegen jeden und für den eigenen Vorteil spielen: Enterbte gegen Arbeitslose, „Yuppielarven“ gegen „Opferwürste“, Sozialarbeiter gegen Klassenaufsteiger, Arbeiterkinder gegen Mittelständler, Entrechtete gegen Altruisten, Jeepfahrer gegen Jeepfahrer. Doch die eingeübte soziale Distinktion funktioniert nicht mehr, die Mittel werden schärfer, die Masken fallen, die einst so klaren Grenzen verschwimmen.

Nora Abdel-Maksoud wurde in München geboren. Sie studierte Schauspiel, schreibt und inszeniert seit 2012 eigene Theatertexte – Komödien, die unter anderem Klassenverhältnisse in den Blick nehmen. Dabei bleiben Schreiben und Spielen eng verknüpft: Noch vor der Textarbeit steht eine erste Arbeit mit den Spieler*innen. 2017 wurde sie als „Nachwuchs- Regisseurin des Jahres“ (Theater heute) und mit dem Kurt-Hübner-Preis für Regie ausgezeichnet. „Café Populaire“ wurde 2019 zum Schweizer Theatertreffen, zu den Autorentheatertagen Berlin und – als drittes Stück nach „Kings“ und „Making Of“ – zum Festival radikal jung eingeladen. Für das mehrfach nachgespielte Stück, u.a. am Staatstheater Stuttgart und am Schauspielhaus Hamburg, erhielt die Autorin 2019 den Hermann-Suderman-Preis im Rahmen der Autorentheatertage Berlin.

Informationen zum künstlerischen und technischen Team, weiterführende Materialien und Links zum thematischen Kontext des Stückes finden Sie über einen Klick auf die Kacheln.

UA Englische Übertitel Mülheimer Theatertage 2022
Jeeps
Ist Erben gerecht? • Jeeps spricht man so: Dschiips • Jeeps sind sehr große Autos.

Bis zu 400 Milliarden Euro im Jahr werden verschenkt und vererbt

Studie der Hans-Böckler-Stiftung und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)  aus dem Jahr 2017

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung • 5.7.17

Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung

Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Reform des Erbrechts ein dringendes Anliegen von Denkern und Politikern wie Montesquieu, Rousseau, Mirabeau, Thomas Jefferson, Alexis de Tocqueville, Blackstone, Hegel, Fichte und John Stuart Mill. „Sind wir noch modern?“ fragt der Soziologe Jens Beckert angesichts des individuellen Erbprinzips. War das Versprechen der Aufklärung nicht, mit dem aristokratischen Prinzip einer allein durch Geburt erworbenen Position zu brechen?
Jens Beckert ist Professor für Soziologie und Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.

Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Arbeitslose – verachtet und gebraucht

In ihrem Buch „Die Elenden“ beschreibt Anna Mayr eine Gesellschaft, in der der Wert des Einzelnen vor allem über seine Arbeit definiert wird. Und in der Arbeitslose trotzdem eine wichtige Funktion erfüllen.

Deutschlandfunk Kultur • 14.10.20

 

Wir müssen übers Erbe sprechen

„Es kommt also immer weniger darauf an, was du eigentlich für einen Job machst und wie hart du arbeitest, sondern eher, wie viel Geld du von deiner Herkunftsfamilie erben wirst.“

Francis Seeck ist Kulturanthropolog*in, Autor_in und Antidiskriminierungstrainer*in und schreibt in ihrem Aufsatz „Von #unten und #oben – Wir müssen übers Erben sprechen“ über soziale Ungleichheit in Bezug aufs Erben, über die Scham, über Geld zu sprechen, und über die Notwendigkeit, eine gerechtere Erbschaftspolitik zu entwerfen.

 

kleinerdrei • 19.12.18

Das im Volksmund „Hartz IV“ genannte Gesetz war keine Arbeitsmarkt- oder Sozialreform wie jede andere

Christoph Butterwege, Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln forscht zu Armut und sozialer Ungleichheit. In seinem Artikel „Die zerrissene Republik“ beschreibt er den folgenschweren Einschnitt der Hartz IV-Gesetze.

Bundeszentrale für politische Bildung • 25.10.19